Wir brauchen einen Kulturwandel in der Gesundheitsdatennutzung

Deutschland tut sich schwer mit der Nutzung von Gesundheitsdaten – oft fehlt es an Vertrauen, aber auch an technischen Möglichkeiten. Artur Olesch spricht mit Professor Dr. Nachtigall über ihre Erfahrungen in Israel und warum Self-Service-Plattformen medizinischem Personal helfen, ihre Daten sinnvoll und sicher zu nutzen.

Frau Professor Nachtigall, Sie haben sich intensiv mit innovativen Modellen der Gesundheitsdatennutzung beschäftigt – unter anderem in Israel, wo Sie eine Lösung beeindruckt hat… 
Ja – das ADAMS Center von MDClone. Dies ist eine innovative, selbstständige Datenexplorationsumgebung, die weltweit Forschung und Zusammenarbeit im Gesundheitswesen ermöglichtDamit können Fragen direkt an Organisationsdaten gestellt werden – auf Basis synthetischer Daten in einer sicheren, dynamischen Analyseumgebung. Das ADAMS Center ist heute in den USA, Kanada, Europa und Israel im Einsatz; führende Krankenhäuser forschen damit gemeinsam – über Grenzen hinweg. 

Artur Olesch spricht mit…
Der international anerkannte Redakteur und Journalist mit dem Schwerpunkt auf der Digitalisierung des Gesundheitswesens spricht für Lemonmint mit den Menschen, die machen.

Auch in der Schweiz… Welche Chancen sehen Sie für Deutschland?  
Das Potenzial ist enorm. Wenn wir es schaffen, Gesundheitsdaten sicher und strukturiert zu sammeln und schnell zu analysieren, könnte die Versorgung und Forschung auf ein neues Niveau gehoben werden – besonders in der translationalen Medizin, also der schnellen Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse am Patienten.

MDClone arbeitet auch mit synthetischen Daten. Was hat Sie daran besonders fasziniert?
Synthetische Daten lösen ein zentrales Problem: den Datenschutz. Viele Menschen wollen ihre Gesundheitsdaten für Forschung bereitstellen, fürchten aber Missbrauch. Synthetische Daten imitieren das statistische Verhalten von realen Daten, erlauben aber keine Rückschlüsse auf Einzelpersonen. So werden Forschung und Innovation möglich, ohne die Privatsphäre zu gefährden.

Welche Hürden sehen Sie für die Umsetzung in Deutschland? 
Neben den regulatorischen Herausforderungen gibt es vor allem kulturelle und strukturelle Hürden. Die Skepsis gegenüber digitalen Lösungen ist groß – verschärft durch Vorfälle wie beim ePA-Datenleck. Technisch fehlt es oft an Interoperabilität und finanziellen sowie politischen Anreizen, um den Wandel systematisch voranzutreiben.

Israel gilt als Vorreiter bei digitalen Gesundheitslösungen. Was können wir lernen? 
In Israel gibt es einen anderen Umgang mit Innovationen – man testet schnell und passt bei Bedarf an, während in Deutschland oft lange diskutiert und perfektioniert wird, bevor man ins Handeln kommt. In Israel wurde erkannt, dass Gesundheitsdaten Leben retten können. Das Gesundheitssystem dort nutzt Daten konsequent, um Versorgung zu verbessern und individuelle Therapien zu optimieren. Wenn deutsche Entscheidungsträger nach Israel reisen, kommen sie oft mit leuchtenden Augen zurück, aber in der Umsetzung hakt es dann doch wieder an Bürokratie und Datenschutzbedenken.

Wie lässt sich die Zusammenarbeit zwischen Forschung, Kliniken und Industrie verbessern?  
Derzeit arbeiten Universitäten, außeruniversitäre Forschungseinrichtungen und Unternehmen oft isoliert. Zudem gibt es viele Partialinteressen – Universitäten konkurrieren miteinander, Unternehmen wollen ihre eigenen Datenhoheiten nicht aufgeben. Wir müssten stärker kooperieren, Standards setzen und uns auf gemeinsame Prozesse einigen, um das volle Potenzial der Daten zu nutzen. Ziel muss eine funktionierende Infrastruktur für den sicheren Datenaustausch sein – mit klarer Rechtsgrundlage und aktiver Einbindung der Patient:innen. Sie sollten verstehen, wie ihre Daten zu besseren Behandlungen beitragen. Nur gemeinsam mit Kliniken, Forschung, Industrie und Politik können wir echten Mehrwert schaffen.

Was wäre der größte Gewinn?  
Mehr Patientensicherheit und eine individuellere, datenbasierte Medizin. Heute arbeiten wir oft mit Annahmen und veralteten Leitlinien, weil uns die Echtzeit-Daten fehlen. Mit besseren Daten könnten wir genau analysieren, welche Therapien in der Praxis tatsächlich funktionieren, welche Nebenwirkungen auftreten und wie sich Behandlungen individuell anpassen lassen. Das würde nicht nur die Qualität der Versorgung verbessern, sondern langfristig auch Kosten senken.

Zum Schluss: Wie optimistisch sind Sie für Deutschland?  
Ich bin vorsichtig optimistisch. Wir sind auf dem richtigen Weg, aber es braucht einen echten Kulturwandel. Gesundheitsdaten dürfen nicht nur als Risiko, sondern müssen als Chance verstanden werden. Dafür sollten wir jetzt die richtigen Strukturen schaffen und endlich handeln; dann kann Deutschland in den kommenden Jahren eine führende Rolle in der digitalen Medizin einnehmen.

Prof. Dr. Irit Nachtigall leitet seit Juni 2024 die Abteilung für Translationale Forschung, Lehre und Kooperation bei Vivantes und hat seit September 2023 eine W3-Professur für Infektiologie an der Medical School Berlin. Sie ist zudem Host des Podcasts „DatenDurchBlick“, in dem sie die digitale Transformation im Gesundheitswesen thematisiert.